Die Welt im Licht der Fotografie

Die Fotografie hat als künstlerisches Medium in den vergangenen zwei Jahrzehnten in einem beispiellosen Siegeszug den Rang als eines der tonangebenden Medien der zeitgenössischen Kunst errungen. In einem Prozess, der zunächst geprägt war von der experimentellen Lust und der Deklination des breiten Spektrums fotografischer Möglichkeiten, mündete der Behauptungswille des Mediums schließlich in das nicht immer kurzweilige Überbieten hinsichtlich der überwältigenden Brillanz der Farben, der immer größer werdenden Formate und der neuen, kühlen und perfekten Präsentation der Werke. Der Inhalt verlor im Laufe dieser Entwicklung nur allzu gern an Dichte zugunsten einer vornehmlich anvisierten technischen Meisterschaft.

Parallel hierzu hat die Fotografie in den vergangenen Jahrzehnten zusehends hinsichtlich ihres ursprünglichen „Versprechens“, eine wahrheitsgetreue Abbildung der Wirklichkeit herzustellen, Abbitte leisten müssen. Bertolt Brechts immer schon richtige, tiefe Bemerkung, nach der eine Fotografie der Krupp-Werke nichts auszusagen vermag über die Realität der Krupp-Werke, wird in unseren Tagen dadurch gesteigert, dass über die Modifikationsmethoden der digitalen Bildbearbeitung jede erdenkliche Realität im vermeintlich fotografischen Bild simuliert werden kann. Der enorme Verbreitungsgrad dieser Möglichkeiten wird in naher Zukunft nahezu jeden zu seinem eigenen Bildbearbeiter machen; vermeintlich im Bild festgehaltene Wirklichkeit wird zum Spiegel einer virtuellen Realität. Es kommt hinzu, dass die weltweite Vernetzung eine so ungeheure Flut der Bilder in Sekundenschnelle um den Erdball jagt, dass ein Name für dieses Fluten erst noch gefunden werden muss. Es ist die Macht der Bilder, mit denen die Botschaften unserer Zeit um die Welt gehen. Und natürlich reduziert sich mit der rasanten Geschwindigkeit, mit der diese Botschaften auch den entlegensten Teil des Erdballs erreichen, die Vielstimmigkeit menschlicher Kulturen immer mehr zu der Eindimensionalität jener Welt, die aktuell die Macht über die Bilder hat.

An diesen Punkten setzt die Fotografie Olaf Schlotes an, indem sie ganz auf den ruhenden Blick des Künstlers setzt, der dort, wo er lebt, den jenseits der Bilderfluten weiterhin bestehenden Geheimnissen der Existenz auf der Spur ist. Jenseits des Mainstreams der Metro- und Megalopolen spinnt Schlote mit seinen Fotografien den steten Faden menschlicher Neugier, jener fundamentalen Bedingung der Kunst, die die Grundbedingungen der menschlichen Existenz - jenseits der schillernden Oberflächen - zu beleuchten sucht.

Olaf Schlote schafft mit dem Licht der Fotografie seine ganz eigene Welt: eine Welt der intensiv erlebten Momente und Augenblicke. Seine Fotografie ist ein Medium der Wirklichkeitserkundung, ein Instrument der besonderen Wahrnehmung, ein Apparat des gewissermaßen tastenden Sehens.

Schlotes Bildwelten beschreiben eine leicht zu übersehende Wirklichkeit - jenseits der hektischen Flut der hochglanzpolierten Images. So unterschiedlich seine Motive auf den ersten Blick auch wirken, ihnen ist die Schönheit des Beiläufigen im Tarngewand des Verborgenen gemein.

Auf seinen Streifzügen durch die Areale des Wirklichen, auf seinen Reisen in Griechenland, Frankreich und Italien, auf den Straßen Berlins, auf den Erkundungen in den seine Heimatstadt umgebenden Landschaften oder in den Stück für Stück ihr ursprüngliches inneres Getriebe verlierenden verwunschenen Orten des Bremer Hafens findet Schlote die Momente, an denen sein Blick haften bleibt.

Diese Momente können erschütternd sein, zumeist aber muten sie eher beiläufig an, fokussieren das im Alltäglichen oft Ungesehene, in dem sich ein Raum tieferer Bedeutung zu entfalten weiß.

Eines der zentralen Werke in Schlotes Œuvre ist zweifellos spektakulär - in einem Triptychon fasst der Künstler einen Fund der besonderen Art, der mit dem Titel beyond seine eigentümliche Anmutung umschreibt. Eine verstorbene Eule erscheint auf den drei leuchtenden Tafeln in je unterschiedlicher Ansicht, eingebettet in den umgebenden Naturraum, wie aufgebettet auf einem Sterbealtar, dessen Gestaltung einem indianischen Ritus zu folgen scheint. Die Eule - als Symbol der Kraft des Sehens im Dunkeln ebenso wie als Synonym der Klugheit - offenbart im Stadium des Todes den Stolz des Lebens. Die dreiteilige Fotografie scheint den Moment des Übergangs, des Ineinander-verwoben-Seins von Leben und Tod in den Blick zu nehmen. Und in der Tat umkreisen viele der Fotografien Schlotes den steten Fluss des Werdens, in dem das Vergehen ebenso aufgehoben ist wie das neu Entstehende. Die Ausstellung in der Weserburg wird das Bild der den Tod sehenden Eule mit einem Gegenbild kontern. Requiem - ebenfalls ein Triptychon - zeigt in aller Stille den Tod eines in sich gekehrten Menschen. In fahlem Weiß erscheint hier das den Körper umhüllende Tuch, partiell wird der gestorbene Körper kenntlich, gefaltete Hände ruhen - Stille, schweigendes Ende. Im Weiß des Lichts wird das Ende eines Lebens erfahrbar, von dessen Übergängen in ein anderes wir nichts wissen - ein ahnungsvoller Transit?

Schlote hat das Bild menschlicher Existenz in einer Vielzahl gänzlich unterschiedlicher Fotografien gefasst. Wir sehen Momente der Reise, des Aufbrechens, der sehnsuchtsvollen Ahnung, an einen anderen Ort zu gelangen, von dessen Existenz es kein Bild gibt. Wir sehen Menschengruppen im Taumel des Spiels, im tanzenden Reigen des Lebens. Oder Menschen auf dem Weg durch die Alltäglichkeit unserer Städte, umfasst von den Spuren der Geschichte, die sich auf den sie umgebenden Architekturen abzeichnen. Immer ist der Blick des Künstlers den Momenten auf der Spur, in denen sich Grundbedingungen des Existenziellen spiegeln. Die Elemente Feuer, Wasser, Erde erscheinen in traumwandlerisch gesehenen Landschaftsbildern, deren gestochen flirrendes Licht von einem steten Wandel erzählt, vom pulsierenden Changieren, vom Übergleiten in einen anderen Zustand - in den Gezeiten des Lichts.

Das gleißende Licht in seiner blendenden Kraft, das Licht, mit dem die Fotografie zeichnet, wird in den jüngsten Arbeiten Olaf Schlotes zum bestimmenden Medium. Das Licht radiert an der Wirklichkeit und somit an der Lesbarkeit, wie wir sie der Fotografie zuschreiben. Fotografien, als technische Bilder, sind aus einem seltsamen Grund schwer zu entziffern, wie Vilém Flusser beschreibt, „da sich ihre Bedeutung scheinbar automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet - ähnlich Fingerabdrücken, bei denen die Bedeutung (der Finger) die Ursache und das Bild (der Abdruck) die Folge ist.“ Das technische Bild ist mit der „bedeuteten“ Welt kurzgeschlossen, es scheint ohne Unterbrechung mit ihrer Bedeutung verbunden. Und so erscheinen die Bilder „nicht als Symbole, die man entziffern müsste, sondern als Symptome der Welt, durch welche hindurch diese, wenn auch indirekt, zu ersehen sei.“

Olaf Schlote spielt mit diesen Zusammenhängen. Die Motive des Transits, Brücken, Treppen, Tunnel erscheinen in einem Licht, das die von ihm erfasste Welt geradezu zum Verschwinden zu bringen scheint. Eine andere Ebene des Wirklichen scheint hier aufzuleuchten. Die Welt der exakt erfahrbaren Koordinaten scheint zu verdunsten und einer anderen Erfahrung Raum zu geben. Das Bild lässt die Welt als sich stetig veränderndes Kontinuum aufleuchten. Der Aggregatzustand des Wirklichen wird im Licht der Fotografie zu einem steten Fluss - ohne Ufer, grenzenlos, allein im Blick des Lichts geborgen. Momente des Realen werden so zu Umsteigestationen, zu Brückenköpfen einer anderen Wahrnehmung, die in den Erscheinungen das Echo des Existenziellen spürbar werden lässt. In diesen fließenden Atmosphären züngeln die Bilder Olaf Schlotes und umkreisen in lichten Bahnen die Phänomene des sichtbar gemachten Verborgenen.

Olaf Schlotes Fotografien legen Wirklichkeit in ihrem Geheimnis und ihrem Facettenreichtum offen. Sie fokussieren unseren Blick auf eine Welt der verblüffenden Erscheinungen und führen uns über die Grenzen unserer „eingetakteten“ Wirklichkeitserfassung hinaus. Hier wird die Überlebenskraft einer Pflanze in einem industriell unwirtlichen Gelände zu einer Sensation stiller Schönheit. Vogelnester erzählen von der Fragilität der Existenz; eindringliche Porträts machen einen flüchtigen Moment des Lebens zu dem, was er ist, zu einem bedeutenden Atemzug des Lebendigen. Im immerwährenden Werden und Vergehen kreisen alle Fotografien von Schlote.

Seine einzelnen Arbeiten, die sich nun in eine umfassende Ausstellung fügen, sind keine Einzelteile eines aufzulösenden Rebus. Aber sie fügen sich dennoch im In- und Gegeneinander paralleler Welten zu einem unspektakulär-intimen, fotografischen Gesang, in dem die Existenz auf einen wundersamen Ton gestimmt ist. Im präzisen Festhalten kleiner Wunder, Ordnungen und Formationen des Wirklichen entspinnt sich ein geheimnisvolles Band, das das Sichtbare unsichtbar durchzieht und allein als atmosphärische Gegenwart spürbar ist, als Gegenwart des künstlerischen Blicks, als Signatur des Sehens.

Fotografie - wie Olaf Schlote sie praktiziert - setzt sich von derlei marktgängigen Spielformen ab. Bei aller Vielfalt sind Schlotes Arbeiten immer authentisch und spiegeln seinen unermüdlichen künstlerischen Blick, mit dem er eine unermessliche Geschichte aus den Arealen des Wirklichen liest. Der Fotograf Schlote spielt weniger mit den fotografischen Mitteln als vielmehr mit den poetischen Seiten des Realen. Der utopische Fluchtpunkt seines fotografischen Unternehmens ist jenes „Wunder der Kunst“, das Georg Simmel in seinem Essay Zur Philosophie des Schauspielers (1908) reflektierte: „So gehört dies überhaupt zu dem unbegreiflich Höchsten aller Kunst, dass sie die Wertreihen, die im Lebendigen gleichgültig nebeneinander liegen, wie in selbstverständlicher Einheit zusammenführt […] und uns damit eine Ahnung und ein Pfand gibt, dass die Elemente des Lebens doch wohl in ihrem letzten Grunde nicht so heillos gleichgültig und beziehungslos nebeneinander liegen wie das Leben selbst es glauben machen will.“

Olaf Schlote kann dabei auf jenen Zauber vertrauen, den seine künstlerische Praxis garantiert, und den Vilém Flusser folgendermaßen beschreibt: „Die neue Zauberei sieht nicht darauf ab, die Welt dort draußen zu verändern, sondern unsere Begriffe betreffs der Welt. Sie ist Magie zweiten Grades: abstraktes Gaukeln.“

Carsten Ahrens

Olaf Schlote

Aldous Huxley hat gesagt - nachdem er Einstein gelesen hatte - dass die Welt nicht nur seltsamer ist, als wir uns vorstellen, sondern viel seltsamer, als wir uns vorstellen können. (Richard Ford)

Ein weiß-graues Quadrat auf schwarzem Fond. In seinem Zentrum ein Pluszeichen rechts und links flankiert von zwei Minuszeichen. Ein Bild im Kielwasser des Suprematismus? Der Unterschied zu Gemälden und Zeichnungen dieser künstlerischen Richtung besteht im Charakter der Zeichen. Kasimir Malewitsch hat für seine meditativen Tafeln keine Ziffern aus dem Repertoire der angewandten Mathematik genutzt, sondern geometrische Figuren.

Das Bild mit dem weiß-grauen Quadrat stammt von Olaf Schlote. Es ist ein Solitär. Zugleich kann es Bestandteil eines Ensembles von Bildern sein. Außerdem ist das Bild eine fotografische Aufnahme. Dennoch handelt es sich nicht um die fotografische Reproduktion eines abstrakten Gemäldes. Auch hat der Fotograf sein Motiv vor der Aufnahme nicht mit den horizontalen und dem kreuzförmigen Zeichen versehen um einer geheimnisvollen ästhetischen Ausstrahlung willen. Ebenso wenig ist das Motiv ein Gegenstand - flach wie ein Brett -, obwohl das Bild einen solchen Eindruck erweckt. Sein unregelmäßiger Umriss und die reliefartige Oberfläche liefern erste Denkanstöße.

Dass der Gegenstand in der Anschauung vollkommen flach wirkt, ist ausschließlich Resultat der Anschauungsperspektive, in deren Sog sich alle Elemente des Bildes fügen. Weil sie das Motiv lotgerecht von oben ins Visier nimmt, schnurren die erhabenen Merkmale auf die Ebene einer Fläche zusammen. Deshalb ist das grau-weiße Quadrat auch kein eindimensionales Gebilde, sondern die plastische Obersicht eines rechtkantigen Steins. Zwischen phänomenaler Existenz und Dasein im Bild besteht eine nicht unmittelbar einsichtige Differenz.

Der fotografierte Stein ist ein Grenzstein zwischen Deutschland und der tschechischen Republik. Einer von vielen. Sie stehen im Wald. 100 bis 150 Meter beträgt die Distanz zwischen den einzelnen Steinen. Ihre Zeichen sind Grenzmarkierungen. Im konkreten Fall sind diese frisch aufgemalt. Grenzer patrouillieren ständig. Die Grenzzeichen korrekt interpretieren kann nur jemand, der sie zu lesen versteht. Mit der Kunst ist es auch nicht anders.

Schillernde Mehrdeutigkeit kennzeichnet das technische Bildmedium der Fotografie. Seine Bilder spiegeln die Gegenwart in der Vergangenheit - und umgekehrt. Einerseits schneidet die Fotografie, genauer die analoge Technik des Fotografischen, in das Kontinuum der Zeit ein: Ihre Bilder halten unmittelbar nach Auslösen des Kameramechanismus einen bestimmten Augenblick fest und fixieren ihn unabänderlich auf dem Negativmaterial des Films. Andererseits erscheint dieser besondere Augenblick in der Anschauung dieser Bilder so ungeheuer präsent, dass sich die Vorstellung entwickelt, die abgebildeten Menschen, Dinge oder Verhältnisse hätten einen Teil ihrer gewesenen Existenz in wahrheitsgetreuer Form unversehrt über die Zeiten gerettet. Lediglich die umfassenden Gesetze der Mode - Kleidung, Körper, Haltung und Umfeld - bannen sie in den präzisen Rahmen vergangener Zeiten. So erklärt es sich, dass manche Bilder beim Auftauchen entsprechender Retro-Looks in der Mode, unversehens Aktualität gewinnen.

Der Stein ist hingegen immer noch da, unverrückbar, resistent gegenüber den Anfechtungen der Mode. Auch die aufgetragenen Zeichen repräsentieren den Anspruch auf Ewigkeit. Die Eigenschaften der Präsenz verstärkt Schlote in seinen Bildern, allerdings auf eine Weise, welche die scheinbare Körperlichkeit der abgelichteten Motive in eine beinahe körperlich spürbare Gegenständlichkeit des Scheins überführt.

Zwar hat man der Fotografie historischen Beweischarakter, dokumentarischen Wert zugesprochen. Tatsächlich aber hat sich alles Gezeigte in die unermesslichen Weiten des Orbit verabschiedet, unwiederbringlich. Im Bild dokumentiert sich lediglich dessen faktische Abwesenheit - wie Robert Castel vor Jahren feststellte. Es dokumentiert die faktische Abwesenheit in der visuellen Darstellung als unaufhebbar abwesend. Das fotografische Bild vergegenwärtigt im analogen Verfahren einen vergangenen Moment im Modus eines definitiv auf Vergangenheit programmierten Mediums.

In der Aufnahme von Olaf Schlote müsste sich gemäß der Logik dieser Feststellung ein utopisches Moment verbergen: nämlich der Umstand, dass der Grenzstein nur noch Relikt einer längst vergangenen Vergangenheit ist. Utopie ist etwas, das in der Fotografie unmöglich ist. Dystopie, also Anti-Utopie, ist ihr Metier: die Verlagerung der Dinge ins menschliche Bewusstsein - im besten Falle. Das Unmögliche zu streifen, ist nichtsdestoweniger Kern der fotografischen Kunst von Olaf Schlote.

Im Gegensatz zum Film, der dem gleichen technischen Prinzip gehorcht, der aber die faktische Abwesenheit des Gezeigten mit Hilfe einer kinetischen Präsenz zu überwinden scheint, bestimmt das Moment des „Offs“, der faktischen „Leere“, Wesen und Struktur des fotografischen Mediums; gerade in der optischen Evidenz. Angesichts fotografischer Bilder haben die Betrachter ein virtuelles Transitvisum, das sie während der Dauer der Betrachtung stets in einem psychologischen Durchgangsstadium behält.

Was für das Medium Fotografie im Allgemeinen gilt, beschreiben im Besonderen die präzise Methode, das Thema und die künstlerische Haltung des fotografischen Autors Olaf Schlote. Seine Methode besteht in einer Art filmischer Handhabe des Mediums. Das Einzelbild ist in seinem fotografisch-künstlerischen Werk nicht Spiegel einer ganzen Welt - in nuce -, also ein Bild mit Anspruch auf Universalität, sondern strukturell offen für die Einwirkung vorher oder später gemachter Aufnahmen. Dabei büßt es seine formale Eigenständigkeit im Unterschied zum narrativen Kino nicht ein - mit der Konsequenz, dass sich die Bilder, selbst wenn sie verschiedene Zeiten, Orte und auch Motivkreise wiedergeben, wechselseitig beeinflussen und mitunter steigern. Zumindest ergänzen sie sich und eröffnen sogar Sichten im jeweils anderen Bild, die ohne die Assistenz des vorhergehenden oder folgenden verborgen blieben. Nicht von ungefähr verlieh Schlote einer seiner Ausstellungen den Titel In Transit (Im Übergang). Die Verhältnisse sind instabil. Jedes „So ist es (gewesen)“ hat ungeheuer viele Aspekte.

Da die Reihenfolge der fotografischen Sequenzen von Olaf Schlote jeweils mindestens in zwei Richtungen weist, vor und zurück, beschränkt sich die Rolle der Betrachter nicht auf die passive physische Komponente. Vielmehr ist ihre Aktivität gefordert. Die Betrachter werden angehalten, sich ständig hin und her zu bewegen. Der physische Prozess der Wahrnehmung findet quasi nebenbei seinen leiblich-körperlichen Ausdruck. In einer spezifischen Werkgruppe injiziert der Künstlerfotograf den Bewegungsakt noch förmlich jedem einzelnen Bild, indem er sich bei der Aufnahme selbst bewegt. Dadurch ergibt sich eine Unschärfe, die ihrerseits wieder auf die Betrachter einwirkt und bei ihnen, im Bemühen, den gezeigten Dingen auf den Grund zu gehen, einen physischen Impuls auslöst. Häufig lassen sich in der Reaktion physische Impulse nicht von psychischen trennen. Ein fließender Übergang findet statt. Auch dieser Übergang ist der ästhetischen Konzeption des Künstlerfotografen eingeschrieben.

Außerdem erlauben Schlotes Bilder-Reihen, die sich jeder zwanghaften Systematik verweigern, eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten und visuellen Verknüpfungen, gleichsam als notwendiger und darum legitimer kreativer Beitrag der Betrachter. Im Buch reduziert sich die Körperaktivität sozusagen auf die Fingerfertigkeit beim Umblättern - in beiden möglichen Richtungen.

Die Betrachter können demnach vor den Bildern und durch sie angeregt eine Reise unternehmen. Auf festgelegte Routen müssen sie sich dabei nicht verpflichten. So erfahren sie sozusagen en passant und subkutan die thematische Dimension des Werkes von Olaf Schlote, finden sich unwillkürlich in diese ein, vollziehen sie gewissermaßen physisch, weil sie von nichts anderem als dem Phänomen der Reise unterfangen werden. Allerdings erweist sich das Phänomen dieser Reise als erheblich komplexere Angelegenheit als in den Reisebeilagen der Zeitungen oder den sogenannten Traveller-Magazinen.

Schlotes Bilder besitzen eine Fülle von Facetten: die physische des Ortswechsels, die metaphorische einer Reise durch das Leben von der Geburt bis zum Tod sowie eine metaphysische. Letztere bringt der Künstlerfotograf mithilfe mehrerer inszenatorischer Entscheidungen zur Anschauung. Erstens durch die gezielte Verwendung von Triptychen, also durch Formen des Dreitaktbildes, die an Altarbilder erinnern. Zweitens dank des punktuellen Einsatzes von Leuchtkästen, kraft derer die fotografierten Motive eine Art Eigenlicht (Glanzlicht) erhalten. Und drittens mit dem allmählichen Zurückdrängen sämtlicher Gegenstandsformen zugunsten einer diffusen, konturlosen, atmosphärischen Raum- und Ortlosigkeit, die natürlich alles andere als scheinbar ist, doch die Optik in letzter Konsequenz auf die reine Sichtbarkeit reduziert.

Die Reise entpuppt sich in solchen Bildern als eine Reise zum Licht, zum Absoluten, das alles Physische tilgt, und nichts ist als Anschauung an und für sich. Leiter und Treppen symbolisieren das unstillbare Verlangen nach Licht. Der Blickpunkt vieler Bilder verschiebt sich aus dem Zentrum nach oben, zum Licht. Die Geburt bedeutet die erste Begegnung des Menschen mit dem Licht. Insofern stellt sich von allein eine emotionale Affinität zum Suprematismus Malewitschs ein, zum Streben nach Transzendenz, nach einer Wirklichkeit jenseits empirischer Realität, einer Wirklichkeit obendrein, in der sich das Transitorische am Ende in der Stille des Ewigen aufhebt.

Doch auch die physische Seite der Bilder von Olaf Schlote hat mit der geläufigen Auffassung von Reise nichts zu tun, schon gar nichts mit dem gewöhnlichen Massentourismus. Reise ist hier eine Veranstaltung, die Neugierde auf Unerwartetes und gespannte Aufmerksamkeit verlangt, also eine Einstellung, die eine einfache Ortsveränderung erst in eine Reise verwandelt - Reise als Abenteuer der Anschauung von Dauer und Geografie. Schlotes Bilder-Reise bietet eine Vielzahl unerwarteter Motive, gemessen jedenfalls an den gewohnten touristischen Erwartungshorizonten. Die spektakulären Momente fehlen beinahe vollständig. „Die einzigen, die nicht reisen können, sind die Nomaden“, lautet ein Aphorismus von Franz Baermann Steiner, dem geistigen Weggefährten Elias Canettis bis zu seinem frühen Tod.

Das Spektakuläre in Schlotes Bildern manifestiert sich in der Abwesenheit des Spektakulären und des Utilitaristischen gleichermaßen. Eine subtile Korrespondenz zum Wesen des Fotografischen jenseits der Propaganda stellt sich ein. Die Aufmerksamkeit des Künstlers gilt dem scheinbar Nebensächlichen, dem ersten Morgenlicht, das den Landschaften eine unvergleichliche Intensität verleiht, den weggeworfenen Dingen, die ihre Funktion erfüllt haben, den Dingen des Gebrauchs, die noch von Nutzen sind - darüber hinaus der eher gewöhnlichen Tier- und Pflanzenwelt, namentlich den Vögeln, der Eule - vielleicht eine Pilot- und Schlüsselfigur im Werk des Künstlerfotografen, zumal sie in der Nacht schärfer sieht als die Menschen, und sie ist in vielen Kulturen ein Symbol der Klugheit.

Viele der Bilder von Olaf Schlote reflektieren auch indirekt das Thema der Reise, sodass sich eine Metaebene eröffnet, die den Anschein der Unmittelbarkeit fotografischer Bilder bricht. Beyond human nature heißen übrigens ein wunderbares monografisches Buch von Olaf Schlote und eine Ausstellung seines gesamten bisherigen Œuvres. In dem „beyond“ kristallisieren sich alle jene Komponenten heraus, die seine fotografischen Bilder vom Mainstream der zeitgenössischen Galeriekunst unterscheiden, sozusagen jenseits des Mainstreams der Kunstmode. Ausschlaggebend dafür ist nicht zuletzt die künstlerisch-ästhetische Haltung ihres Urhebers. Die zeichnet sich durch Empathie aus, die intuitive Fähigkeit, hinter die oberflächliche Erscheinung der Welt blicken zu können, die Schlote fotografiert und mit seinen Bildern zu erschließen vermag.

Schlote operiert künstlerisch auf dem schmalen Grat zwischen emotionalem Erfassen und kognitivem Urteil. Beim Fotografieren lässt er sich eher von seinen Gefühlen leiten als von einem vorher gefassten Konzept, wobei diese Emotionen in den Humanwissenschaften als „gefühlte Aspekt-Wahrnehmung“ begriffen werden. Gegenüber der sichtbaren Welt, die ihm die Motive für seine Bilder liefert, nimmt er die Haltung an, die er den Betrachtern vor seinen Bildern abfordert. Deshalb erschöpft sich unser Anschauen der Aufnahmen auch nicht in der Absicht, zu einem abschließenden ästhetischen Urteil zu gelangen, sondern es sucht beständig nach Impulsen des Emotionalen, sodass sich immer neue Wahrnehmungsschichten auftun. Diese emotionalen Impulse springen auf uns Betrachter über, sobald und sofern wir uns auf die Bilder einlassen.

Auf einmal zeigen sich auch Korrespondenzen zwischen den ästhetischen Einstellungen des Künstlerfotografen und dem spezifischen Wesen und der Thematik des Fotografischen schlechthin. Fotografie nach Maßgabe Olaf Schlotes kennzeichnet sich als Reise, sowohl in die Außenwelt des Sichtbaren, als auch in die eigene Innenwelt. Außen und innen stellen sich nicht als Differenz ein und dar, vielmehr als die beiden Seiten einer Medaille. Die Dinge seien, vertraute Diane Arbus ihrem Tagebuch an, nicht sichtbar, weil sie vorhanden sind, sondern sie werden erst sichtbar, weil sie gesehen werden. Sie sichtbar zu machen, ist vornehmste Aufgabe der Kunst - seit jeher, und wir Betrachter erblicken, wenn wir durch die Kunst das Sehen erlernt - oder heute wieder erlernt - haben, die Welt mit neuen Augen. Und diese erkennen, dass die Bilder des Künstlerfotografen Olaf Schlote um Elementares kreisen - in jeder Beziehung und auf jeder Ebene. Es überrascht daher nicht, dass die vier Elemente, Erde, Wasser, Feuer und Luft eine beherrschende Rolle in seinen fotografischen Bildern spielen.

Klaus Honnef