Gebrochene Fäden

„Der Sand wird sich an die Wellen erinnern / Aber vom Schaum – bleibt keine Erinnerung, / Außer bei denen, die vorbeizogen / mit dem späten Nachtwind. / Aus ihrer Erinnerung wird er nie gelöscht.“ – Natan Yonatan

„Seit meiner Kindheit sind Tod und Trauer meine Begleiter“. Dies sind (fast wörtlich) Olaf Schlotes einleitende Worte in unserem ersten Gespräch, kurz nachdem wir uns einander vorgestellt und Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht haben. Er bezieht sich auf seine Erinnerungen, die epileptischen Anfälle, die seine Kindheit in Besitz nahmen, und die tragischen Ereignisse, die sein Leben und seine Arbeit prägten. Seine enge Vertrautheit mit der „Grauzone“ Tod und dem Schmerz während jedem epileptischen Anfalls ermöglichte es ihm, diese Erfahrungen zu vertiefen und durch die Kameralinse „dem Tod direkt in die Augen zu schauen“. Verstehen Sie dies aber nicht falsch: Hier gibt es kein Blut; keine Pornografie des Todes – eher die Reflexion von Tragödie, durch ein ästhetisches Prisma gezeigt, lyrisch und unsere Neugier ansprechend.

Ein zerbrochenes Fenster auf dem Boden, eintausend Glasscherben (Prora 2011, S. 68).* Man kann beinahe das Zerbersten hören. Das ganze Drama gerahmt und festgehalten inner- halb des Grenzbereichs der Katastrophe; nichts Ausuferndes. Das abgebildete „Grauen“ ist penibel „sauber“, besonders wenn es in Verbindung mit dem Titel der Fotografie gebracht wird: Prora. Prora, die Nazi-Ferienanlage, von der deutschen Regierung auf der Ostsee-Insel Rügen gebaut, auch bekannt in Zusammenhang mit der Naziorganisation KdF (Kraft durch Freude), dem Freizeitwerk des Dritten Reichs.

Es gibt keine Freude in dem Prora-Fenster. Die Fotografie bezieht ihre Kraft aus der Art, wie sie die Vergangenheit reflektiert; im Nachhall menschlicher Moralvorstellungen, die zerstört wurden; in den Fenstern von Häusern und Läden, die in der Kristallnacht zerschmettert wurden; in der systematischen Art einer sorgfältig arbeitenden Todesmaschinerie, während der Rahmen bemüht scheint, all diese Glasscherben zusammenzuhalten. Obwohl das Massaker nicht wirklich in Prora stattgefunden hat „besitzt das fotographische Bild eine bestätigende Kraft und […] die Zeugenschaft der FOTOGRAPHIE bezieht sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit,“ sagt Roland Barthes in seinem für die Fotografie maßgebenden Essay La Chambre Claire (dt. Die helle Kammer). Dem heuristischen Prinzip folgend, stellen wir – die Betrachter – eine Verbindung her zwischen dem Bild, dem Titel und der Zeit (dem Zeichen und der sprachlichen Botschaft). Wir ergänzen die Geschichte und dann stellen wir uns nicht bloß das zerbrochene Fenster vor, sondern auch die Abbildung eines Sargs mit den zertrümmerten Überresten von Millionen Menschenleben. In Schlotes Worten: „Insbesondere zerbrochene Kinderseelen“.

Olaf Schlote wurde in Deutschland geboren und lebt dort. Mit der Erinnerung an den Holocaust umzugehen, bedeutet für ihn Verantwortung zu übernehmen für die Taten seiner „Vorfahren“, es ist eine Pflicht, die er seiner eigenen Identität als Mitglied der deutschen Nation, die verantwortlich für die Gräueltaten ist, schuldet. Die Fotoserie, aufgenommen in den Nazi-Konzentrations- und Vernichtungslagern Majdanek (Majdanek 1997, S. 9 – 23) und Auschwitz (Auschwitz 2019, S. 37– 65), ist der Beweis für das Geschehene. Der Ausdruck „stummes Zeugnis“ deckt sich mit Schlotes Einsicht, dennoch versetzt es ihn in einen Zustand innerer Aufruhr, da genau diese Gebäude, Säulen, Drahtzäune und Bäume alle Echtzeit-Zeugen waren. Daher ist es wichtig, zwischen Gedenken und Erinnerungen zu unterscheiden, zwischen kollektiven und individuellen Taten.

Roland Barthes beschreibt drei verschiedene Tätigkeiten in der Fotografie: „ein Photo kann der Gegenstand dreier Tätigkeiten (oder dreier Gefühlsregungen oder dreier Absichten) sein: tun, geschehen lassen, betrachten. Der operator ist der Photograph. Der spectator, das sind wir alle […] Und was photographiert wird, ist Zielscheibe, Referent, eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes Eidolon, das ich das spectrum der Photographie nennen möchte.“ Wir werden später auf den Ausführenden – den Fotografen – zurückkommen. Jedoch ist die Komplexität der Fotografien, denen wir hier gegenüberstehen, entgegen Barthes‘ Standpunkt, noch größer. „Ausführen, überarbeiten, betrachten“ lässt sich nicht nach Barthes‘ strenger trichotomischer Klassifizierung unterteilen. Die Gruppe „Wir“ besteht aus denen, die dort waren, und denen, die nicht dort waren. Denen, die erlebten, und denen, die davon erfuhren. Denen, die überlebten, und denen, die davon hörten. Denen, die erzählen, und denen, die zuhören. Denen, die Erinnerungen in sich tragen, und denen, die versuchen das Andenken zu wahren.

Als eine Israelin, die immer wieder vielen verschiedenen Fotografien vom Zweiten Weltkrieg ausgesetzt wird, besonders im Zusammenhang mit dem Holocaust, haben die Fotografien der Barracken und Lager mit ihren Wachtürmen (Majdanek 1997, S.10) „einen rätselhaften Punkt von Inaktualität, eine seltsame Stauung, Inbegriff eines Stillstands […] nur ist das PHOTO seinem Wesen nach niemals Erinnerung (ihr grammatikalischer Ausdruck wäre das Perfekt, während das Tempus des PHOTOS eher der Aorist ist), es blockiert sie vielmehr, wird sehr schnell Gegen-Erinnerung.“

Betrachter, die häufig diese Art von Fotografien gesehen haben, haben gelernt zu betrachten und zu verstehen auf eine Art, die „fassbar, doch nicht wahrnehmbar“ ist. Während diese Fotografien tatsächlich eine Flut von persönlichen, intimen Erinnerungen in denjenigen unter uns auslösen werden, die in den Lagern waren; wo die Erinnerung an Gerüche und Düfte sie wieder dorthin versetzen wird, mit einem Gefühl von Eiseskälte in ihren Knochen und dem Geschmack von schimmeligem Brot im Mund, werden sie sich auch an geliebte Personen erinnern und noch einmal ihre eigene Befreiung durchleben. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die meisten Überlebenden keine Fotos ihrer Verwandten behalten konnten. Obwohl die Bilder keine Porträts sind, stellt ihre kraftvolle Symbolik paradoxerweise eine Art „Familienalbum“ dar, in dem die Abwesenheit der Toten gegenwärtig ist. Beim Betrachten der Fotografien erhalten die Überlebenden die Gelegenheit sich an ihre umgekommenen Liebsten zu erinnern. So erzählen dann manche Betrachter von Erinnerungen an Papa und Mama, an eine kleine Schwester, die ihnen weggenommen wurde, oder an die, die verschwunden und nicht zurückgekommen sind.

Memories No. 9 (S.70) ist eine der ergreifendsten und erschütterndsten Fotografien, da sie die Präsenz der Abwesenden betont; ein auf der Straße liegender Mantel neben einem Kilometerstein mit der Zahl 9. Im Vordergrund diagonal verlaufende Eisenbahnschienen und Holzbretter. Es gibt keinen Zweifel an der Bedeutung von Eisenbahnschienen oder ihrer Konnotation mit dem Holocaust – da Eisenbahnschienen ein Merkmal vom Holocaust sind. Vor nicht allzu langer Zeit war hier jemand, der diesen Mantel als Schutz vor Regen und Kälte trug. Wurde ihm seine Kleidung weggenommen? Wurde er ermordet? Wurde er auf einen Zugwagen geladen? Keine Menschenseele in der Nähe, nur eine Eisenbahnlinie, ein fallengelassener Mantel, ein Kilometerstein, eine Nummer. Abwesenheit, Anonymität und eine Nummer – eine Nummer als Ersatz für Identität, genau wie all die Nummern, die auf
die Arme der Überlebenden tätowiert wurden. Oder erinnerte Schlote die Nummer auf dem Kilometerstein an den 9. November 1938 – die Kristallnacht?

Es sind genau diese Fotografien – die lediglich etwas andeuten oder auf etwas hinweisen, die einen flüchtigen Moment abbilden; Fotografien, die nicht ganz einfach zu verstehen sind; Fotos, die Teile von Gebäuden zeigen, oder fast abstrakt sind –, die alle Betrachter (die Überlebenden wie auch die, die „davon gehört und gelernt haben“) die signifikante Bildsprache gestalten, die Geschichte zu Ende erzählen und sie kontextabhängig interpretieren lassen – solange sie Auschwitz und Majdanek im Gedächtnis haben. Eine Abbildung, die durch das Einfangen von Lichtstrahlen, die durch die Baumstämme in Majdanek 1997 (S.15) sickern, die innere Dunkelheit intensiviert und die düstere Atmosphäre formt, die nach Überfüllung, Erstickung und Verzweiflung (und vielleicht auch nach spärlicher Hoffnung, symbolisiert durch die Schlitze) riecht. Die abbröckelnde, flechtenbedeckte Mauer in Auschwitz/ 2019 (S. 49) formt ein fleckiges, abstraktes Muster einer Erinnerung; sie zeigt nicht nur, wie die Zeit Dinge zerstört, sie verstärkt auch die Erkenntnis, dass die Mauer Zeuge von Gräueltaten war. Diese Art von Bildsprache ist eine Ausnahme unter den visuellen Mustern von Holocaust-Fotografien. Interessanterweise hatte der Fotograf Simcha Shirman, Sohn von Holocaust-Überlebenden (zweite Generation), einen ähnlichen Ansatz und beschloss, eine „anonyme Mauer“ zu fotografieren, ein Zeugnis in Form einer Backsteinmauer in Auschwitz-Birkenau. Eine offene Bildsprache mit einem individuellen Aufruf, da „ein einzelnes Bild einer Vielzahl von Zwecken dienen kann […] und viele verschiedene Dinge für verschiedene Menschen bedeuten kann,“ Die gepflasterte Straße mit ihrem abbröckelnden Bordstein, die in Untitled, Auschwitz 2019 (S. 55) gezeigt wird, erinnert auch an die ermüdeten Füße der Kinder, die auf dem gleichen Pfad in ihren Tod marschiert sind. Ein Zeugnis für die Leben, die zerstört wurden, ein nicht-so-stilles Zeugnis, das jedem, der es wagt, den Holocaust oder seine ungeheuerlichen Ausmaße zu leugnen, direkt ins Ohr ruft: „Es ist wirklich passiert!“

„Wenn wir mit der Fotografie eines Körpers zu tun haben […] dann erzeugt dieser visuelle Exzess hinsichtlich der bildlichen Information über das Grauen einen pornographischen Effekt […] Das Exzess-Bild zieht unsere Aufmerksamkeit auf Pornographie und verdrängt die Tatsache, dass die Abbildung unmöglich ist.“ Efrat Bibermans Worte stimmen mit Schlotes künstlerischem Werk überein. Es ist genau dieser „unschuldige“ Blick durch die offene Tür in das Zimmer in Majdanek 1997 (S.16), der das Behandlungsbett, auf dem grausame medizinische Experimente vollzogen wurden, enthüllt. Die Bedeutung dieses starren „Bettes“ ist nicht offensichtlich, zumindest nicht sofort. Das Licht am Eingang neben der Tür, das am Bett entlang in diesen Raum fällt, verbindet sich mit dem Schatten im Flur, um geometrische Formen zu bilden, und lenkt uns somit weiter von der Bedeutung der Abbildung ab. Trotzdem erreicht uns die Gewissheit nach einer Weile in einem durchdringenden und erschreckenden Augenblick. So beschreibt Schlote behutsam das Abscheuliche, ohne auf die invasive Bildsprache des Grauens zurückzugreifen.

Überfüllte, fensterlose Züge, Transporte, Fahrten und Reisen ins Ungewisse – in den Tod – gehören zu den charakteristischen Signifikanten des Holocaust. Auch in dieser Fotografie unterlässt es Schlote, auf direkte Weise irgendein Holocaust- „Attribut“ zu verwenden. Stattdessen schafft er es, die Darstellung zu intensivieren, indem er eine Zeitdimension hinzufügt: durch die Verwendung von Unschärfe. In Reflexionen  (S. 80 / 81) verschmelzen Schienen, Geschwindigkeit, Lichter – wie in einem Sturm – zu einem unscharfen und beinahe abstraktem Bild. Die Perspektive ist nicht klar, und man fragt sich: Ist dies eine Erinnerung an eine schnelle Reise oder ist es die Reflexion eines Passagiers, der im Zug sitzt? Ist dies ein Blick von innen nach außen? Oder der Blick von oben? Trotz des „Fehlens von Information“, erzeugt Unschärfe eine stärkere beunruhigende Wirkung. Laut Biberman: „Die Wirkung von Fotografien liegt in der Präsenz eines unmöglichen Augenblicks, eines aus der Zeitfolge herausgerissenen Augenblicks oder eines Augenblicks, der nie aufgenommen wurde.“

„[…] was Fotografie ,an sich‘ war, durch welches Wesensmerkmal sie sich von der Gemeinschaft der Bilder unterschied […] was die Fotografie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existenziell nie mehr wird wiederholen können.“ Olaf Schlote versucht nicht, den flüchtigen Moment zu erfassen; er greift eher nach der Ewigkeit der Erinnerung. Individuelle Erinnerungen verschwinden mit den Überlebenden – doch die Geschichte und ihre Moral müssen, nach Schlote, erhalten und erzählt werden, um fortzubestehen – damit ein solcher Genozid nie wieder geschieht. Dadurch hat die Memories-Ausstellung einen doppelten Zweck: Sie hält die individuellen Erinnerungen an der Oberfläche und versenkt sie gleichzeitig in die Tiefen der persönlichen Geschichte. Im Gegenzug erlaubt dies den anderen – dem Fotografen und den Betrachtern – die Erinnerung zu erhalten.

Die farbigen Porträts der elf Überlebenden schlagen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen gestern und morgen. Ihr heiteres Lächeln verrät nichts von den Albträumen und dem Leid, das jede/r von ihnen erlebte. Sie sind die Opfer, und sie sind die Zeugen. Sie sind die Erinnerungsträger und durch ihre persönlichen Erinnerungen – die immer wieder erzählt werden – wird die Erinnerung bewahrt: „Heute, nachdem ich seit 70 Jahren in Israel lebe, weiß ich, wie wichtig es ist, von der Vergangenheit zu erzählen. In 100 Jahren wird niemand glauben, dass es den Holocaust gab. Wie kann man denn glauben, dass ein einjähriges Baby verbrannt wurde?! Es ist mir wichtig, dass dies in die Geschichte niedergeschrieben und festgehalten wird, damit dieses Leid nie wiederholt wird. Niemand sollte je wieder so etwas Grauenvolles erleben müssen.“

Andere Erinnerungsträger sind die Bäume, vor allem ihre Wurzeln. Metaphorisch gesehen sind sie auch Brücken zwischen gestern und morgen. Schlote erwähnt seine Beschäftigung mit seinen eigenen „Wurzeln“ größtenteils im Zusammenhang mit der historischen Verpflichtung seiner Generation, der zweiten Generation, die unter dem Nazi-Regime gelebt hat. Meine Frage „Warum sich mit dem Holocaust beschäftigen?“ beantwortet Schlote so: „Nun, es hat mit meinen Wurzeln zu tun! Deutschland ist das Land, wo ich geboren bin und wo ich verantwortlich mit unserer Geschichte umgehen muss! ,Nie wieder‘. Auf gewisse Weise versuche ich die Taten meiner Vorfahren umzuwandeln.“ Die Tatsache, dass die alten Bäume, die immer noch in den Lagern stehen, Zeugen sind, quält ihn über alle Maßen. Er hat deswegen beschlossen, sie in voller Nacktheit zu fotografieren (S. 62). Ungeachtet dessen entschied er sich in der Serie Reflexionen  für Abbildungen und Nahaufnahmen, die eine völlige Abstraktion des Abgebildeten zeigen (S. 82 – 83). Besonders interessant und bemerkenswert ist das wachsame „Auge“ des Baumes (Reflexionen , S. 84), das uns anstarrt und vielleicht auch die Welt – das uns herausfordert, uns an Picassos Guernica erinnert und fragt: Wie konnte eine solche Abscheulichkeit jemals in unserer Welt geschehen?

Die Farbaufnahmen in der Serie Reflexionen  erzählen bereits die Geschichte des Lebens danach. Dies ist die Geschichte der Überlebenden, derjenigen, die es geschafft haben, starke, robuste Äste wachsen zu lassen, und ein erfülltes Leben zu führen – trotz der dunklen und verworrenen Vergangenheit. Die Fülle an Wasser, die freiliegenden Wurzeln sind der Beweis dafür, dass es möglich ist, aus der Asche aufzuerstehen. Und im Einklang mit der Art, wie er düstere Bilder verwendet hat, benutzt Schlote Unschärfetechniken, um ein kraftvolles, zeitloses Bild einer Brücke zu schaffen, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet, den Himmel mit der Erde, das Physische mit dem Metaphysischen (S.176 /181, 188 /189).

Für den Epilog geht Schlote anders vor, um die Identifikation zu vermeiden zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung, zwischen einer Fotografie und dem, was diese repräsentiert: Er verschiebt die Bedeutung auf ein Ersatzbild. In der Farbserie Reflexionen  zeigt er (im Gegensatz zu den Schwarz-Weiß-Fotografien) zwei rote Sonnenschirme neben zwei leeren Plastikstühlen an einem Strand (S. 201): Nicht mit der Absicht, einen angenehmen Sommerurlaub abzubilden, sondern eher, um die Gefühle der Einsamkeit und der Leere zu zeigen, die trotz des Überlebens und Weiterlebens nach dem Krieg noch blieben. Das gleiche gilt für die abblätternden Wände, die Verkörperung zerfallenden Lebens, ein durchdringendes Echo der Mauern von Auschwitz (S. 49).

„Es gibt Licht, das die Zeit verbrennt, in dem es lebt, und es gibt Licht, das die Zeit löscht, in dem es noch nicht gelebt hat; und es gibt schwarzes Licht, das die Zeit zum Stillstand gefrieren lässt.“ – Simcha Shirman, „The Light Remembers“

Ariella Amar

Memories

Sie schauen uns aus farbig strahlenden Leuchtkästen an. Manche lächeln, andere blicken ernst. Freundliche alte Menschen, elf an der Zahl. Sie haben viel erlebt. Ihre Gesichter zeugen davon. Doch was sie tatsächlich erlebt haben, zeigen die Gesichter nicht. Das erschließt sich erst aus dem Zusammenhang des umfangreichen und tief bewegenden fotografischen Zyklus von Olaf Schlote mit dem lapidaren Titel Memories.

Die Menschen haben erlebt, was die Grenzen der menschlichen Vorstellung sprengt. Ihre Augen haben es gesehen. Sie haben das Unvorstellbare am eigenen Leib erlitten – und sie haben es überlebt. Damals waren sie noch sehr jung. Nicht alle haben das Grauen in den deutschen Todeslagern gesehen, erfahren und überlebt, das Grauen, das jeder Beschreibung spottet, sei es in schriftlicher oder visueller Form: die „Shoa“. Doch alle waren seelisch und leiblich von der Ausgrenzung und der Verfolgung betroffen.

Es ist eine völlig andere Art und Weise der visuellen Wahrnehmung, wenn man bei der anschaulichen Begegnung mit den Gesichtern der Menschen um diesen fürchterlichen Zusammenhang weiß. Sie fällt erheblich unmittelbarer, physischer aus, als würde man ihnen ohne dieses Wissen gegenübertreten. Den Zusammenhang vermittelt ein besonderer Teil des Zyklus von Olaf Schlote mit den Bildern, die das Grauen signalhaft aufscheinen lassen. Auf einmal ist die Unbefangenheit, mit der man sonst Porträts aufnimmt, sich den Gesichtern von Menschen flüchtig oder intensiv nähert, wie verflogen. Die Neugierde wird schal. Am liebsten möchte ich den vorwiegend freundlichen Blicken ausweichen. Namentlich als Nachfahre derer, die den Völkermord begangen, die Bedingungen dafür geschaffen, sich bereichert oder einfach weggesehen haben. Ich empfinde Scham. Spüre die untilgbare Erblast der Geschichte. Der Geschichte meines Landes. Meine Geschichte. Auch kommt Zorn auf. Zorn darüber, dass viele die unermesslichen Verbrechen an diesen Menschen, die uns freundlich anschauen, und den Millionen, die in den Todeslagern ermordet wurden, wieder relativieren, ja leugnen. Schlimmer noch, dass sogar die Zahl verbaler und tätlicher Angriffe auf jüdische Menschen in Deutschland wieder steigt, und ein neuerliches Massaker im Herbst 2019 nur an einer glücklicherweise verschlossenen massiven Synagogen-Tür scheiterte.
Eugen Rosenstock-Huessy, der große, in Deutschland weitgehend vergessene Gelehrte und letzte Rektor der Universität Breslau, der durch rechtzeitige Emigration sein Leben rettete, Amerikaner wurde, und bereits 1945 als Gastprofessor erneut Vorlesungen und Seminare an deutschen Universitäten hielt, erlaubte keinen Zweifel: Fortan gehörten zur deutschen Geschichte Goethe und Schiller, Hitler und Himmler – deutsche Geschichte ist unteilbar.

Kürzlich kursierten fotografische Bilder von der Pogromnacht des 9. auf den 10. November 1938 im Netz. Widerliche Fotografien, abstoßend durch das, was sie zeigen. Zwei Fotografen aus Nürnberg und Fürth haben sie gemacht. Elisheva Avital hat das Album mit diesen Bildern im Nachlass ihres Großvaters, eines alliierten Soldaten, gefunden. Sie zeigen, wie deutsche SA-Männer in Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen eindrangen, alles kurz und klein schlugen, wertvolle Bücher abschleppten und brandschatzten. Und sie zeigen ausführlich, wie die Bewohner dem schlimmen Treiben mit Entsetzen und weitgehend fassungslos zusehen mussten und dabei auch noch fotografiert, also doppelt erniedrigt wurden. Einer mit blutigem Gesicht, ein weiterer, offenbar aus dem Bett gejagt, noch im Pyjama. Auf der Rückseite der Fotos befinden sich die Copyright-Stempel der Fotografen. Sie hätten nichts gewusst, hat die überwältigende Mehrheit der Deutschen nach dem Zusammenbruch des Naziregimes behauptet. Auch nicht, als später ihre jüdischen Mitmenschen, von denen sich die meisten zu Recht als Deutsche empfanden, mit einem Judenstern gebrandmarkt und schon symbolisch für die Todeslager markiert wurden.

Zwar sind die schrecklichen Erinnerungen der Menschen, die uns anblicken, und deren Blick zu erwidern so schwerfällt, sobald wir ihre Identität und ihre Erfahrungen kennen, das sichtbare Thema des Bildzyklus Memories von Olaf Schlote. Doch bewirken die eindrücklichen Porträts im Format 40 × 60 cm, je länger man sie ansieht, einen denkwürdigen Umkehreffekt: Sie blicken zurück, während wir sie anblicken. Tatsächlich blicken sie uns an, bevor wir sie anblicken. Infolgedessen sind nicht sie diejenigen, die im Fokus des Zyklus stehen. Vielmehr sind wir es, die von ihnen angeblickt, förmlich adressiert, aber dennoch nicht angeprangert werden. Das ist womöglich das Bestürzende bei der Begegnung mit den Bildnissen: Dass die Überlebenden, gleichgültig, ob sie den Todeslagern tatsächlich entronnen sind oder ob sie ihnen durch Zufall und Glück erspart blieben, dass sie uns nicht mit Verachtung oder strafend anblicken, sondern freundlich. Uns, die nie vergessen dürfen, was ihnen geschah. Nie vergessen dürfen, zu welch ruchlosen Verbrechen Menschen fähig waren und sind. Gerade ganz gewöhnliche Menschen wie wir, die Betrachter. Wir sind es, die sich ständig erinnern müssen, um schon den kaum wahrnehmbaren Schwelbrand auszutreten: Um zu verhindern, dass von Neuem eine planvolle Mordmaschinerie in Gang gesetzt wird wie in den deutschen Vernichtungslagern. Die Erinnerungen der elf Zeugen müssen Bestandteil der unseren werden, soweit sie es noch nicht sind, und wir müssen sie weitergeben an unsere Nachfahren mit der Maßgabe: Niemals vergessen!

Dass Olaf Schlote seine Porträts der Überlebenden des unsagbaren Schreckens gleichsam hinterleuchtet, verleiht ihnen eine besondere Bedeutung. Auch sie entzieht sich der konkreten Benennung. Womöglich ist Aura der Begriff, der hier angemessen ist. Walter Benjamin definiert Aura als jenes „sonderbare Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ in seinem berühmten Essay über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit – auch er ein Opfer Nazi-Deutschlands. Schlote versieht die Porträts gewissermaßen mit der verlorenen Erinnerung an den einstigen Kultwert des Bildes, beispielhaft verkörpert in den Ikonen. Doch die angewendete Technik der Wiedergabe leistet noch ein Übriges: Sie verstärkt den Umkehreffekt, steigert die Intensität der Porträts und ihrer Blicke. Und so verwandeln sich individuelle Erfahrungen beinahe osmotisch in soziale, subjektive in kollektive.
In der westlichen Hemisphäre ist der Ursprungsmythos der Bilder ohnehin mit dem Erinnern fest verknüpft. Plinius der Ältere erzählt in seiner Historia naturalis von der Tochter des Töpfers Butades, die beim Abschied ihres Geliebten einen Schattenriss seines Gesichts in die Wand des Hauses geritzt habe, um ihn auch bei physischer Abwesenheit bei sich zu wissen. Das Bild befeuerte ihre Erinnerung. Es repräsentierte den Abwesenden in effigie, war sozusagen sein Stellvertreter. Die frühesten Bildnisse dienten dem Ahnenkult. Sie bewahrten die Verstorbenen im Gedächtnis nachfolgender Generationen und versprachen ihnen ein Leben nach dem Tode.

Noch Roland Barthes gründet seine phänomenologische Theorie der Fotografie auf einem anspruchslosen Porträt seiner Mutter aus einer Zeit, bevor er geboren wurde. Daraus entspann er seine These, wonach die Fotografie einen körperlichen Bezug zwischen ihrem Bild und ihm als Betrachter herstelle. Etwas Unerwartetes entzünde im jeweiligen Betrachter mitunter eine derart heftige Reaktion, weil er (sie) sich – im wahrsten Sinne des Wortes – dadurch getroffen fühle. Manchmal ist der Auslöser nur etwas Nebensächliches, Zufälliges, ein Detail, eine Geste. Deshalb nannte Barthes das Phänomen „Punctum“. Fotografische Bilder führen zwar generell zu der schmerzlichen Einsicht des „Es-ist-so-gewesen“, aber das „Punctum“ verankere sie im Körper der Betrachter. Im Falle der Porträts in Schlotes Memories sind es die Blicke, die das bewerkstelligen. Bewusst hat Barthes den grammatikalischen Modus des Perfektums gewählt, das Vergangenheit und Gegenwart des Betrachtens verschmilzt. Bei jedem Sehen der Bilder erneuert sich, was sie vergegenwärtigen. Jeder Impuls, sich zu erinnern, schlägt eine Brücke.
Die Menschen, die Schlote porträtiert hat, sind durch diese Technik nah und fern, an- und abwesend zugleich. Sie sind mit einer nach und nach schwindenden Anzahl anderer Menschen die letzten, die gesehen, erfahren und erlebt und überlebt haben, was geschah, Zeugen und Opfer gleichermaßen. Seine „wunderbaren“ Leuchtkästen versteht Schlote als „eine […] Hall of Fame, eine Demonstration gegen das Vergessen und für die Kraft des Überlebens.“ Die Politologin und Journalistin Yael Kishon aus Tel Aviv hat sehr intime Interviews mit den Menschen geführt, die der Künstler vor die Kamera gebeten hat. Seine Bilder handeln nicht nur von der Vergangenheit, sondern kreisen auch um das Leben der Überlebenden mit der Last der Erinnerungen. Nicht wenige Bilder handeln vom modernen Israel, dem Land, wo sie eine Heimat gefunden haben.

Der Zyklus Memories ist multimedial angelegt. Er bedient sich einer quasi-filmischen Methode der Vergegenwärtigung. Bild und Sprache korrespondieren. Die Sprache dokumentiert die Erinnerungen derjenigen, die das Grauen erlebt haben. Die Bilder dagegen schaffen in unserer vorwiegend visuell regierten Kultur das Universum der Erinnerungen. Sie liefern die anschauliche Voraussetzung dafür, dass die Erinnerungen an das Grauen aufrechterhalten und weitergegeben werden und trotz der Unbegreiflichkeit Spuren des Geschehens im Reich des Konkreten hinterlassen haben. Gleichzeitig demonstrieren sie aber auch die Unmöglichkeit, das Grauen in Bilder fassen zu können. Denn noch die härteste Form von Realismus in der Kunst mutet angesichts des Völkermordes und seiner kalten Rationalität unangemessen an, verkürzt unzulässig dessen Dimension.

Olaf Schlote kennt die leidenschaftliche Kontroverse zwischen dem Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman auf der einen Seite sowie dem Psychoanalytiker Gérard Wajcman und dem Essayisten und Filmemacher Claude Lanzmann auf der anderen Seite über die vier fotografischen Bilder aus dem KZ Auschwitz-Birkenau. Im August 1944 hatte ein Häftling des Lagers vier Bilder von der Einäscherung vergaster Menschen und vom Marsch der Frauen in die Gaskammer fotografiert. Ein zweiter beobachtete währenddessen die SS-Aufseher. Die äußerst schwierigen Bedingungen vor Ort sind die Ursache, dass nur wenig auf den Bildern zu erkennen ist. Dennoch nennt sie Didi-Huberman in seinem aufrüttelnden Buch über die Kontroverse Bilder trotz allem.

Auch Schlotes Bilder sind notwendigerweise Bilder trotz allem. Bilder, die sich an den materiellen Relikten des Ungeheuerlichen und an den Erinnerungen einer Handvoll Überlebender orientieren (müssen), Metabilder sozusagen. Bilder aus dem Off und keine Illustrationen. Sie bedürfen der Vorstellungskraft der Betrachter, um ihre ganze Wucht zu entfalten. Sein Zyklus Memories besteht in praxi aus Einzelbildern, Bildergruppen, einem Bildtableau, aus dem gesprochenen und geschriebenen Wort. Aus den einzelnen Elementen hat Schlote eine Installation gefügt, in der jedes Element durch seinen Bezug zu den anderen Elementen um einen weiteren Bedeutungsrahmen erweitert wird. Das Gravitationszentrum ist das Ensemble der Porträts der elf alten Menschen, die uns, die Betrachter, ansehen. Als Index der ergreifenden Werkgruppe fungiert ein zwölfter Leuchtkasten, ein Tableau.
Das Tableau umfasst zwanzig Fotografien, teils Hoch-, teils Querformate in identischer Größe, farbig und schwarz-weiß, in fünf Reihen übereinander angeordnet. Samt und sonders Bilder aus Auschwitz. Einschließlich des Schriftzugs, der den Eingang des Vernichtungslagers überwölbt, mit dem zynischen Spruch „Arbeit macht frei“.

Außerdem Bilder der Erde, auf der die Verbrechen verübt wurden und die mit ihnen getränkt ist, der Ruine eines Verbrennungsofens, den gebogenen Lampen, die das riesige Vernichtungslager nachts taghell ausleuchteten, den Bäumen, die Erinnerungen in Ringen materialisieren, von Schienen, Symbolen der Menschentransporte, und Schutt … Dazwischen eine Fotografie von zwei Stacheldrahtzäunen, die von rechts und links auf den Brennpunkt des Bildes jäh zulaufen, sodass der Blick der Betrachter buchstäblich gefangen genommen wird – ohne Ausweg. Ein Blick aus dem Inneren eines Raumes ins grelle Tageslicht zitiert die bekannteste Fotografie unter den fotografischen Bildern aus dem Vernichtungslager vom August 1944. Mutmaßlich aus der Gaskammer fotografiert, hält die Fotografie das Verbrennen der Leichen im Freien fest. Alle Bilder verdichten sich zu Chiffren, die nur eine Assoziation erlauben: Shoa.

Neben den Porträts und dem Indexbild versammelt Schlote fotografische Bilder von der Gedenkstätte Majdanek und freie visuelle Assoziationen, die er teilweise in der Gedenkstätte Stutthof ausgestellt hat, eine Farbfotografie mit einer brennenden Kerze und die düstere Schwarz-Weiß-Fotografie einer Erosion. Die Bilder von seinem Besuch in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Majdanek hat Schlote anno 1997 realisiert. Abzüge von 50 × 70 cm bis 100 × 140 cm, in Schwarz-Weiß. Unter ihnen ein weiteres Zitat des Blicks aus einem pechschwarzen Innenraum nach außen. Er scheint ungeachtet seines schwarzen Umfelds den Betrachtern während der optischen Wahrnehmung einen zweifelhaften Schutz zu gewähren. Diese Bilder belegen, wie lange sich der Künstler schon mit dem niederschmetternden Erbe des mörderischen Naziregimes beschäftigt. Ihr Gestus ist vorwiegend dokumentarisch, Innen- und Außenaufnahmen wechseln ab. Ihr Ziel, einen einigermaßen vollständigen Gesamteindruck von dem Lager mit seinen Holzbaracken, bedrückend engen Raumverhältnissen und Stacheldrahtzäunen zu vermitteln. Einmal geraten zwei Frauen in den Zangengriff eines Dreiecks aus Pfählen. Ein ikonisches Bild.

Die Bilder, die er im Vernichtungslager Stutthof gezeigt hat, stammen aus dem Jahr 2016. Die Aufnahme von der Erosion wirkt beinahe abstrakt, fast ohne Zwischentöne, die Spitzlichter verstärken den ungleich wuchtigen Ausdruck im Umfang von 100 × 140 cm noch und erhöhen seine physische Wirkungskraft. Das Farbbild mit der brennenden Kerze im Leuchtkasten ist ein Memento, ein Appell, nicht zu vergessen. Allein die Schienenwege der Eisenbahn verschwinden im Grau des nivellierenden Nebels.

In der Vielfalt der fotografischen Anwendungsweisen – dem Wechsel von indexikalischen, ikonischen und symbolischen Bildern, dem Wechsel von Formaten und Anordnungen der Bilder, von Schwarz-Weiß und Farbe und dem Wechsel der Zeitebenen – erweist sich Olaf Schlote als ein Künstler, der nicht nur die fotografische Praxis souverän beherrscht, sondern sich auch ihrer Grenzen und Möglichkeiten bewusst ist. Er weiß um die Problematik, das Unvorstellbare in einem Medium zu vergegenwärtigen, das aufgrund seiner Technik mit der sicht- und erfahrbaren Welt verwoben ist, sie aber gleichzeitig tiefgreifend verändert und in einen ästhetischen Gegenstand transformiert. Diese Neigung durchkreuzt Schlote, indem er aus den unterschiedlichsten Aspekten und ihrer betont fragmentarischen Wiedergabe ein konzeptuelles Erinnerungsbild konstruiert, das dem menschlichen Vorstellungsvermögen beständig neue Korridore öffnet, es aktiviert und beim Sehen das Denken einfordert.

Gemeinhin gilt die Fotografie als Speicher der Erinnerung. Ein fotografisches Bild bewahrt Erinnerungen in visueller Form auf, friert sie ein und wird Teil eines unveräußerlichen Archivs. Anders operiert das menschliche Gehirn. In seinen Verschaltungsprozessen wandeln sich die Erinnerungen unaufhörlich. Sie bleiben lebendig und sind von außen manipulierbar. Bisweilen mischen sich neue Bezüge in die Vorgänge des Erinnerns, die mit den Dingen, an die sie sich knüpfen, bloß noch den Anlass gemein haben. Nur wenn das Hirn erkrankt, verfestigen sich vereinzelte Erinnerungen und erstarren.

Memories hält den Fluss der Erinnerung in Gang. Der Zyklus verklammert formal mehrere Schichten des Vergangenen und setzt sie einander entgegen. Einerseits die Erinnerung an die Vernichtungslager, andererseits an das moderne Leben in Israel. Die Bildnisse der elf Überlebenden verknüpfen die fernere Vergangenheit, die für die Betrachter unvorstellbar ist, mit der näheren Vergangenheit, jene für sie vertraute, die sich in Israel realisiert (hat). Deren Diskrepanzen verwischt Olaf Schlote gleichwohl nicht in dem Sinne, dass alles wieder gut werde, vielmehr schafft er dank der elliptischen Struktur des Zyklus eine betont brüchige Basis für die Empathie der Betrachter.
Dass die Bilder aus den Vernichtungslagern im schärfsten Kontrast zu den späteren Bildern aus Israel stehen, ist nicht verwunderlich. Die Verwendung von Farbe ist das auffälligste Merkmal des Unterschieds, wobei die genaue farbliche Abstimmung der Motive unterschiedliche Stimmungswerte orchestriert. Die Motive der kontrastierenden Welten sind häufig die gleichen, die Erde, die Bäume, diesmal mit ihren starken Wurzeln und fest verankert in der Erde, Wände und Türen, doch ihre Erscheinungsweise ist eine ganz andere. Das Memento-Bild mit der brennenden Kerze vor dunklem Fond und der Legende For Stutthof weist weder die satte, nichtsdestoweniger transparente Dichte eines Viererblocks von grünen Pflanzenbildern noch die schwebende, leicht unscharfe Atmosphäre des impressionistischen Strandbildes oder die der übrigen Natur- und Sachaufnahmen auf. In der chronologischen Abfolge einer allmählichen, keineswegs kontinuierlichen Erweiterung des Blicks von innen nach außen, von der Enge in die Weite, von der Verwüstung in die Zivilisation, kristallisiert sich eine menschenmögliche Zukunft – trotz allem. Die Wunden vernarben nur wie die Baumwunde in einem Leuchtkasten von 40 × 60 Zentimetern. Einmal versperren sogar die waagerechten Lamellen eines Rolltores die freie Sicht der Betrachter. Das Licht ist Reflexionslicht. Von Neuem wird unser Blick auf uns zurückgeworfen …

Klaus Honnef