Erinnerungen am Werk

Vielen gilt die Fotografie als Speicher der Erinnerung. Touristen gehören ebenso dazu wie Historiker. Die Fotografie ist ein Speicher der besonderen Art. Sie bewahrt Erinnerungen in anschaulicher Form und friert sie zugleich ein. Anders als das menschliche Hirn. In ihm verändern sich die Erinnerungen unaufhörlich. Sie bleiben lebendig. Bisweilen erhalten die Erinnerungen völlig neue Züge und haben mit den Dingen, an die sie sich knüpfen, nur noch den Anlass gemein. Nur wenn das Hirn erkrankt, verfestigen sich vereinzelte Erinnerungen und erstarren.

Das Gedächtnis trügt. Unvermeidlich. Deshalb billigen manche der Fotografie eine größere Verlässlichkeit zu. Einige sogar Wahrheit. Wie wahr fotografische Bilder sind, wissen alle, die noch zwischen der Wirklichkeit der Bilder und der Wirklichkeit eigener Erfahrung zu unterscheiden wissen. Gemäß der ästhetischen Theorie hält Fotografie allein fest, was sich einmal vor der Optik der Linse befunden hat und schon beim Auslösen des fotografischen Mechanismus zum Zwecke des Festhaltens in den Zustand des unwiderruflich Vergangenen versinkt.

Olaf Schlote überbrückt die Ufer der Differenz und wagt den Spagat. Dabei schafft er Außerordentliches. Mit seinem fotografischen Projekt „Erinnerungen“ öffnet er Räume und Korridore. Er befreit das „fixierte“ Erinnern aus den Zwängen kategorialer Zuschreibungen – der Kunst wie der Wissenschaft. Erinnerung kann frei schweifen und bleibt gleichwohl nicht ohne Orientierung – wie „im richtigen Leben“. Fotografische Bilder liefern in seinem Projekt zwar die Orientierung, unterdrücken die subjektive Erfahrung aber nicht. Individuelle und kollektive Erinnerungen verzahnen sich. Sie behalten dennoch ihren eigenständigen Charakter. Die kollektiven werden den individuellen einverleibt. Das Erinnern wird buchstäblich zur leiblichen Erfahrung.

Damit der Spagat gelingt, bedarf es mehrerer Voraussetzungen: Entsprechender Bilder einerseits; eines besonderen Umfeldes andererseits. Ein geeignetes Umfeld bietet die Kulturkirche St. Stephani in Bremen. Ort der Versammlung und Ort des Gedenkens. Eine Partie der Bilder hat Olaf Schlote schon früher realisiert, die anderen für sein Projekt gezielt erarbeitet. Sämtliche Voraussetzungen müssen obendrein so miteinander verlinkt werden, dass sie einander korrespondieren. Eine Frage der Präsentation und der Inszenierung von Bildern. Danach sollte sich der Geist des Ortes im Geist der Bilder wieder erkennen und auf sie ausstrahlen – und umgekehrt.

Die Begegnung mit den Bildern der „Erinnerungen“ in einer Stätte, die der Versammlung – in der doppelten Bedeutung des Wortes – und dem Gedenken gewidmet ist, wird für die Betrachter zu einem Zusammentreffen mit den eigenen Erinnerungen als fremde – und vice versa. Dank einer spezifischen Anordnung der Bilder. Sie vereinen sich zu einer „Installation“. Die Erinnerungen vergegenwärtigen sich, ohne gleichzeitig konkret zu werden. Was einigermaßen widersprüchlich klingt, erhellt der Umstand, dass sich die potentiellen Betrachter mit dem Eintreten in den Kirchenraum mental in dessen Besucher verwandeln. Die Bilder begegnen ihnen hier als selbständige Einheiten (Entitäten), als Verkörperungen von Erinnerung. In den Bildern von Olaf Schlote wird der Prozess des Erinnerns zum Element der Wahrnehmung. Die Bilder führen vor, wie sich Erinnerung vollzieht. Der Vorgang wird sichtbar, aber nicht gegenständlich. Es handelt sich demzufolge auch nicht um Bilder, die in herkömmlicher Weise etwas darstellen, vielmehr um komplexe Gefäße, in denen Sichtbares und Nicht-Sichtbares zur unauflösbaren Einheit verschmelzen und sich zur emotionalen Erfahrung verdichteten. Die eigenen Erinnerungen werden fremd und die fremden eigen.

Die Eingangspassage demonstriert anschaulich, was gemeint ist. Zur einen Seite reihen sich Bilder mit fernen – im Mittelgrund auftauchenden – Horizonten. Sie laden zum grenzenlosen Schweifen der Gedanken ein. Ihnen gegenüber befinden sich Bilder, die dem Blick enge Grenzen setzen und von Menschen erbaute Grenzsymbole, Türme, Zäune, Stacheldraht, zeigen. Beide Positionen markieren die Pole, zwischen denen sich Leben, Erinnern und auch das Medium der Fotografie ereignen. Das Fliessen und das Blockieren, Natur und Kultur, Glück und Schmerz, das Geschwungene und das Kantige, das weibliche und das männliche Prinzip, das Hingeben und das Abwehren, Stichworte für mögliche Einsichten, die sie vermitteln. Im Hin- und Hergehen, im Flanieren und Innehalten erfahren die Betrachter/Besucher das Wirken des Erinnerns als physische Leistung.

Die dialektisch aufeinander bezogenen, aber räumlich getrennten, parallelen Bilderfolgen führen suggestiv auf den Altarraum hin. Dort findet ein „Requiem“ Platz. Schon von weitem senden die hellen Leuchtkästen, die es inszenieren, ihre Strahlen aus. Ehe die Betrachter/Besucher jedoch den Altarraum erreichen, ziehen zwei Seitenschiffe ihre Aufmerksamkeit auf sich. In den Seitenschiffen erweitert sich die bis dahin vorwiegend private, individuelle, ja subjektive Erfahrungsebene, und eine objektivierende, zudem gesellschaftliche Dimension kommt hinzu.

Linker Hand liefern eine Reihe in sich genau abgestimmter Farbaufnahmen Einblicke in den spezifischen Charakter des Erinnerns. Im Gegensatz zu den bereits durchwanderten Bilderfolgen realisiert sich in diesen das Herausbilden von Erinnerungen gleichsam als Sicht von Außen, als fotografische Beschreibung. Die in dem Raumsegment versammelten Bilder vergegenständlichen die diffusen Eindrücke und Erfahrungen, die in der langen Eingangspassage durch das Wechselspiel der Bilder im Kopf der Betrachter/Besucher angeregt worden sind. In einer elliptisch angelegten Sequenz machen sie sichtbar, wie sich – mutmaßlich – der Weg des Erinnerns gestaltet – von einem verschwommenen Impuls zur allmählichen Konkretisierung im Aufstieg zu einer wenigstens vorläufigen Gewissheit. Die Bilder demonstrieren andererseits, wie und dass sich Erinnerung und Phantasie unweigerlich vermischen.

Rechter Hand taucht dann ein sperriger Block kollektiver Erinnerung in Gestalt eines Tableaux´ aus ergreifenden schwarz-weißen Bildern aus dem Nebel vagierenden subjektiven Erinnerns auf, schwarz gerahmt und so betont konturscharf. Die exemplarische Einlösung des zuvor symbolisch Angedeuteten in höchst möglicher Konkretisierung. Ein Komplex überdies, der meist verdrängt, doch unaufhörlich von neuem belebt wird. Dieser Block kollektiver Erinnerung lastet namentlich auf allen den Menschen, die sich zur Einflusssphäre der deutschsprachigen Kultur zählen. Und nicht minder schwer auf denen, die aus ihr vertrieben wurden, und dabei noch von Glück sagen können, dass sie zumindest ihr leibliches Leben zu retten vermochten. Auch auf ihren Kindern und Kindeskindern wird er lasten. In solchen Bildern erhält die dunkle Seite der Erinnerung konkrete Anschauung. Aber in einer angemessenen Form, in einer Form, die das Nicht-Sichtbare, das schiere Grauen, das sich in die fotografierten Motive eingeschrieben hat, in ein „anschauliches“ Schweigen transformiert. Die nicht und nichts illustriert, sondern die notwendige Unsicherheit erzeugt, um dem Grauen seine Schrecken nicht zu nehmen. Es bleiben lediglich die Monumente, die durch ihre schiere Existenz von dem künden, das sich in ihnen zugetragen hat, und die Erinnerung wach halten.

Immer wieder überschreitet Olaf Schlote die Grenzen des Sichtbaren, um das Terrain des Nicht-Sichtbaren in seine Bilder einzuholen und es nichts desto trotz zu benennen. Das Dilemma des Fotografen ist offensichtlich. Die halb geöffnete Tür, die im Raumsegment rechts wie in dem links auf jeweils einem Bild erscheint, gibt eine leise Ahnung von der fotografischen Aporie. Was verheißt die Tür? Öffnet sie sich oder fällt sie zu? Das eine Mal, in der farbigen Version, ist die Möglichkeit, dass sie sich öffnet, eine realistische Option. Das andere Mal wurde sie, als sie noch ihre Funktion im Todeslager erfüllte, definitiv hinter denen, die sie passiert hatten, geschlossen, definitiv!

Obwohl sich der Strom der Bilder und des Erinnerns mit den erwähnten Abzweigungen unaufhaltsam auf den Altarraum zu bewegt, manifestiert sich in den drei weißen, von innen ausgeleuchteten großformatigen Bildern des „Requiem“ nicht unbedingt der Kulminationspunkt der fotografischen Installation. Das bemerkenswerte Triptychon setzt vielmehr das – undramatische – Ende einer Teleologie, die alle Betrachter/Besucher zu den drei zusammenhängenden Bildern hinleitet, eine Teleologie, die ebenso ihr Leben bestimmt, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht. Im Zentrum des Triptychons eine beinahe vollständig weiße Fläche oder – im Fontaneschen Sinne – ein weites Feld. Das Motiv ist ein weißes Laken. Rechts und links flankieren das zentrale Bild zwei Hochformate, ebenfalls weiß. Aus ihrem Weiß schälen sich Fragmente eines menschlichen Körpers heraus, zwei gefaltete Hände sowie der rechte Teil eines Oberkörpers. Es sind Bilder des Todes. Das Medium Fotografie, das Leben erstarren lässt, besiegelt den Tod – doppelt. Die Bilder übermitteln, was der Tod beendet hat, der Erinnerung der Überlebenden. Nur in der Erinnerung anderer überleben wir den Tod. Olaf Schlote greift auf den anthropologischen Ursprung allen Abbildens zurück, Erinnerungen zu bewahren. „Requiem“: Das Eingangsgebet gab dem Vorgang, den der Begriff bezeichnet, den Namen: „Requiem aeternam dona eis, Domine – Herr gib ihnen die ewige Ruhe“. In der europäischen Kultur repräsentiert das Weiß die Farbe des Lichts, die Tür öffnet sich. In anderen Kulturen die Farbe der Trauer – und auch in diesen Kulturen öffnet sich die Tür. Doch nicht alle Menschen betrachten es aus dieser Sicht. Das Licht vermag auch alles Leben zu versengen.

Selten hat ein Künstler die Essenz der (nicht nur fotografischen) Bilder klarer zur Anschauung gebracht und ihre Möglichkeit wie ihre Grenzen intensiver und imaginativer ausgelotet als Olaf Schlote. Kurzum: ein Meisterwerk.

Klaus Honnef