Olaf Schlote: „Beyond human nature“

Die Ausschnitte der Bilder wechseln wie die Einstellungen eines lebhaften Kinofilms. Nah, Detail, mittlere Distanz, Totale, Sicht von oben, seltener von unten, auf Augenhöhe oder amerikanische Einstellung folgen in vitalem Rhythmus aufeinander. Von Einstellungen statt Ausschnitten zu sprechen, obwohl es sich um fotografische und nicht um filmische Bilder handelt, entspricht aber nicht nur in formaler Hinsicht der Vorstellung, die ihr Autor Olaf Schlote mit seinem Werk „Beyond human nature“ verfolgt. Schlote ist Fotograf und Künstler zugleich. Angesichts seiner ästhetisch anspruchsvollen Aufnahmen scheint derlei Feststellung pleonastisch. Hat sich die Fotografie nicht längst das Terrain der Kunst erobert? Schlotes Bilder machen jedoch die schwerwiegenden Verluste des Siegeszuges bewusst. Denn noch einmal betonen sie die fotografische Seite auf Kosten der künstlerischen, ohne letztere in irgendeinem Punkt zu vernachlässigen.

Die Aufnahmen wahren – in Siegfried Kracauers etwas steifleinerner Terminologie – die Balance zwischen realistischen und formgebenden Tendenzen. Indem sie den spezifischen Charakter des Mediums Fotografie nicht preisgeben, halten sie am Bezug zu der konkreten Welt fest, die sich der Wahrnehmung als sichtbare Realität darstellt.

Gleichwohl will sich der Künstler im Fotografen Olaf Schlote keinesfalls mit der Darstellung von Oberflächen-Phänomenen des Sichtbaren begnügen. Der Titel seines Werks lässt keinen Zweifel an seinen Absichten zu: „Beyond human nature“. Das „beyond“ weist ausdrücklich auf einen Moment hin, der bloßen Empirismus übersteigt. Andererseits bestritt einer wie Bertolt Brecht, dass solches mit den Mitteln der Fotografie überhaupt möglich ist. Welche Einsichten vermittele die Fotografie des Äußeren einer Fabrik, fragte er polemisch, schon über das, was sich in ihrem Inneren abspiele? Die Praxis scheint ihm Recht zu geben. Trotz der Flut von Bildern fotografischer, elektronischer oder digitaler Technik, die bisweilen in Echtzeit um den Globus schießen, erschließt sich die Welt ihren Adressaten immer weniger. Und wer wie Marcel Proust in der Fotografie das anschauliche Dokument der Entfremdung von Menschen und Dingen erblickt, könnte sogar zu der Schlussfolgerung gelangen, dass dies im Wesen des Mediums begründet ist. Dennoch gelingt es dem Fotografen-Künstler Olaf Schlote, die Membran der Oberfläche mit seinen fotografischen Bildern zu durchleuchten. Er eröffnet der Wahrnehmung auch Zusammenhänge, die nicht evident sind, dessen ungeachtet aber umso nachhaltiger ins Auge stechen, je tiefer man in sein Bild-Universum eintaucht. Dabei ist sein Bild-Universum alles andere als ungewöhnlich. Es besteht aus vielen vertrauten Einzelheiten. Allzu vertrauten Einzelheiten. Nur gelegentlich zeichnen sich Aufnahmen und Sequenzen ab, die den Horizont alltäglicher Erfahrungen in metaphysischem Sinne zu erweitern scheinen. Die Menschen, alte und junge, die Landschaften, die Blumen, die Tiere, teils in kontrastreichem Schwarz-Weiß, teils in abgestimmter Farbigkeit – wem sind sie nicht bereits auch in anderen Bildern oder tatsächlich begegnet? Irgendwo… Auch jede einzelne Aufnahme – es gilt für die meisten jedenfalls – sorgfältig kadriert und in nuanciertem Licht, sprengt auf den ersten Blick nicht den Rahmen des fotografisch Möglichen. Aufgerollte Seile, Vögel, einige noch nicht flügge und vor kurzem ausgeschlüpft, Tassen mit dampfendem Espresso, Porträts – manches ist, nach einem geflügelten Wort von Marlene Dietrich gegenüber Maximilian Schell und auf die eigene Person gemünzt – eigentlich „zu Tode fotografiert“ worden. Nein – nicht die einzelnen Aufnahmen, obwohl die meisten entschlossen eine Gegenposition zum glatten und auf Perfektion bedachten Ästhetizismus der illustrierten Magazine beziehen, liefern das wirklich Bemerkenswerte in Schlotes Universum. Es ist vielmehr die überlegte Verkettung der Bilder zu einer überwiegend parataktischen Folge, die jede einzelne Aufnahme mit den übrigen verbindet, den unmittelbar benachbarten wie den entfernteren. Es ist das kinematografische Element, das dem Werk den Rang des Außerordentlichen verleiht. Das verschmilzt die unterschiedlichen visuellen Eindrücke der einzelnen Bilder zu einer eigenständigen Welt; einer Welt, die dank der verwendeten Technik im Diesseits verankert ist und nichtsdestoweniger über die Grenzen des allein Sichtbaren hinaus strahlt. Auf einmal entfaltet sich in den Bildfolgen eine plausible Logik. Sie fügt die scheinbar heterogenen Bildaspekte zu einem ästhetisch überzeugenden Mosaik. Wer indes der Auffassung zuneigt, die Logik der Bilderreihe verliefe nur in eine Richtung, also teleologisch, sieht sich bald ebenso getäuscht wie jemand, der glaubt, die Bilder müssten unbedingt eine bestimmte Reihenfolge einhalten, um in der vom Autor angezielten Weise wirken zu können.

Die Reihenfolge ist sicherlich nicht willkürlich. Doch sie gehorcht auch keiner formalen Doktrin, die der Künstlerfotograf den Aufnahmen von außen aufstülpt. Die überlappende Wirkung der einzelnen Bilder ergibt sich ausschließlich aus dem Funkenflug ihres Zusammentreffens. Das eine verändert das andere, zunächst unmerklich, dann tiefgreifender, und ein drittes wiederum die beiden zuvor betrachteten. Die Bilder ergänzen sich wechselseitig um etwas, das in ihnen zwar latent vorhanden ist, aber nicht unbedingt betont wird. Genauer: Nicht nur die Folge der verschiedenen Bilder befördert wie in der journalistischen Fotografie die Geschichte und ihre Aussage – jedes Bild birgt die gesamte Geschichte im Kern gleichsam bereits in sich, und sie tritt sichtbar zutage, wenn mehrere Aufnahmen ein Konzert bilden, einen Dialog anspinnen, ein vielstimmiges „Gespräch“. Insofern ist der Vergleich des Werkes von Olaf Schlote mit einem Mosaik auch nicht ganz zulänglich. Der einzelne Stein im Mosaik ist ohne inhaltliche Bedeutung. Dass sich der verborgene Reichtum eines jeden Bildes in gewissem Sinne erst dank der übrigen Aufnahmen in vollem Umfang offenbart, liegt an der Intensität der künstlerischen Vision des Fotografen. Alle seine Bilder sind von dieser Intensität förmlich durchsengt. Dabei kristallisiert sich die künstlerische Vision sowohl auf der Ebene der visuellen Zeichen und Symbole heraus als auch auf der strukturell-formalen Ebene des ästhetischen Vortrags. Sie erwächst aus einer geduldigen und genauen Beobachtung der Phänomene. Auch wenn der Fotograf spontan eine Bewegung erfasst. Die starke Imagination des Künstlers gibt den Bildern eine unmerkliche Kohärenz. Was allerdings nicht mit Geschlossenheit verwechselt werden darf. Denn die stilistischen Brüche sind markant und gewollt, und die Struktur ist elliptisch. Lyrische und prosaische Aufnahmen prallen unvermittelt aufeinander, inszenierte und registrierte, sachliche und solche mit schwebender Grundstimmung, Aufnahmen von herbem Ernst und wärmendem Humor, schwarz-weiße und farbige: Blühen und Vergehen, das Kleine und das Große.

Meist richtet sich Schlotes Aufmerksamkeit auf Randständiges, auf Dinge, die keinem Amateurfotografen einen Blick wert sind und die kein ehrgeiziger Hobbyfotograf ästhetisch zu nobilitieren gewillt ist. In seinem künstlerischen Universum hängt alles mit allem zusammen, franst aber an keiner Stelle zur Beliebigkeit des „Anything goes“ aus. In einem Satz formuliert: Schlotes Bilder beschreiben nichts Geringeres als den Kreislauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod.

In der Perspektive des Philosophen Georges Bataille erfahren die mit einem Bewusstsein ausgestatteten Menschen dieses Leben als einen Zustand schmerzlicher Diskontinuität. Eine unterschwellige Sehnsucht nach dem verlorenen Einssein mit der Natur begleitet sie. Durch die Geburt ist das Einssein gewaltsam unterbrochen worden. Im Tod, der gleichzeitig die Basis für vielerlei neues Leben ist, hebt sich der Zustand der Diskontinuität schließlich auf, den die „kleinen Tode“ sporadisch orgiastischer Vereinigungen lediglich auf kurze Zeit aufzuheben vermögen. Die zeitgenössische Variante einer „Wissenschaft des Lebendigen“ betont hingegen die Wechselwirkungen von Natur und Kultur, Körper und Geist, „vegetativer“, „animalischer“ und „intelligenter Seele“ (Henri Atlan), die sich nicht ohne Störungen, Sprünge und Widersprüche vollziehen, um den einengenden Zwängen eines deterministischen Denkens zu entkommen und die Freiheit des Diskurses zurückzugewinnen, der einst auch die Kunst ausgezeichnet hat. Diese Idee ist Schlote näher.

Im ruhigen Fluss seiner Bilder werden die angesprochenen Wechselwirkungen nämlich verblüffend anschaulich, wiewohl der Künstler die neuen epistemologischen Paradigmata wahrscheinlich nicht kennt. Auffallend die zahlreichen Aus- und Durchblicke in seinen Bildern. Sie vergegenwärtigen die positive Haltung des Künstlerfotografen. Eine Königskerze behauptet sich in unwirtlichem Gelände. Stimmig der innere Klang der Aufnahmen: Ein Vogel in der Hand des Jungen auf einer groben Steintreppe, drei kecke Papageientaucher auf der Grasnarbe und die gelben Kelche des Islandmohns inmitten einer schroffen, schwarzen, zerklüfteten Landschaft, die sich triumphal der Sonne entgegen recken. Oder der Kontrast der Blüten in Pink und der vertrocknenden Äste eines Strauchs auf einem Felsblock, der Regenwolken und der Regenbögen, des Theaters der Menschen auf einer improvisierten Bühne und des Stelldicheins der Früchte des Feldes auf einem Markt. Die Ansammlung der fremd gebliebenen Menschen im Pariser Viertel Barbès und das majestätische Kappadokien. Ein ständiges Ankommen und Fortgehen erfüllt die Bilder. In einer Aufnahme zitiert Schlote das Schlussbild von Chaplins filmischem Meisterwerk „Modern Times“. Nicht zuletzt die Sequenz einer Reise vom Wald ans Meer in Fellinischer Zauberkraft und ein verstörend karges und nüchternes Triptychon mit dem Titel „Requiem“ verknüpfen die Gegensätze, schlagen eine Brücke anstatt die Unterschiede zu verwischen. Einer verunglückten Eule schließlich widmet Schlote eine Bestattung – wie einem indianischen Häuptling oder einem Mächtigen früherer Kulturen – sowie ein dreifaches Schaubild, das kraft seiner luziden Farbigkeit den endlichen Sieg des Lebens über den Tod zu verkünden scheint.

Fast alle seine Aufnahmen rufen das Empfinden hervor, dass sich ihr Urheber als Teil dessen begreift, was er mit seiner Kamera aufgenommen hat, und dieses Empfinden verdichtet er mit spürbarer Suggestivität. Schlote bezieht die Betrachter in das Reich seiner Bilder ein. Die Betrachter verleiben sich durch den Akt reflektierter Wahrnehmung symbolisch ein, was die Bilder bezeichnen, und vollenden sie in einem Verfahren des „open end“. Andererseits ist das eine oder andere Bild so großformatig, dass die Betrachter geradezu physisch in ihr Territorium integriert werden: „Ankunft“.

Und großformatige Schaukästen schaffen eine die schiere Körperlichkeit „transzendierende“ Atmosphäre, wie sie sich im dunklen Saal eines „Lichtspieltheaters“ ausbreitet…

Klaus Honnef